Das Holokratie-Prinzip – Im Kreis der Gleichgesinnten
Von: Dr. Dennis Lotter
In digitalen Unternehmenswelten wirkt es nicht nur anachronistisch, sondern auch schädlich, wenn Entscheidungen noch immer nach „Gutsherrnart“ ausschließlich von oben nach unten getroffen werden. Die Zeiten wurden taffer, schnell, dynamisch und wechselhaft, so dass der Weg, die eine Entscheidung von unten (vom Sachbearbeiter) nach oben (zur Geschäftsführung, zum Manager oder Abteilungsleiter) nehmen muss, zur Stolperstrecke für neue Ideen und Projekte werden kann. In flexiblen, agilen und anpassungsbereiten Arbeitswelten sind Modelle zielführend, die vom starr-hierarchischen Denken abweichend Ordnungsmodule schaffen, die geschmeidig auf die Entscheidung vieler Beteiligter setzen. Und das ohne dabei ein Chaos zu produzieren.
Merke: In der digitalen Geschäftswelt gilt: Selbstorganisierte Steuerung statt Top-Down-Entscheidung!
Kühner Sprung in das Neolithikum
Wagen wir einen Rückblick in die Jungsteinzeit, bekommen wir eine Ahnung davon, wie eine Horde von Menschen in sich reguliert und strukturiert war. 2,3 Dutzend Menschen befanden sich damals innerhalb einer Gruppe. Man erinnere sich: Die bekannte Welt machten sich nur wenige Menschen untertan – oder war es nicht eher umgekehrt? Zu dieser Zeit formten sich die bis lange in die Moderne gültigen Geschlechterrollen, als Frauen qua Mutterschaft von der Jagd ausgeschlossen und in der Beschaffung von lebenswichtigem Protein auf die Versorgung durch die männlichen Artgenossen angewiesen waren. Eine Familie im heutigen Sinne war nicht wirklich bekannt. Kinder wuchsen unter der Obhut von Horden-Mitgliedern auf, die nicht unbedingt ihre Eltern sein mussten. Das hierarchische Gefüge war von der Fähigkeit zum Jagen geprägt, was eine explizite Führung nicht erlaubte. Vermutlich wurden die ältesten Männer – die mit der profundesten Jagderfahrung – am meisten respektiert. Das explizite Überlebensprinzip prägte die Stämme.
Alle Mitglieder der Horde, einschließlich der kleinen, bekamen täglich neu Aufgaben zugewiesen Nahrungssuche fand jederzeit statt, denn wir sprechen hier zwar von der Eiszeit, doch Kühlschränke waren noch Zukunftsvision und Besitzdenken noch unbekannt. Kybernetik – die Steuerung von Maschinen, Organisationen und sozialen Systemen – war in der Steinzeit wohl ebenso nicht existent, aber instinktiv folgten die Steinzeitmenschen einem Prinzip, das sich bewährte und in der Antike für die Fähigkeit zu leiten und zu führen angewandt wurde. Die Kybernetik, die Norbert Wiener Anfang des 20. Jahrhunderts begründete, bündelt Kernbegriffe wie Anpassung, Selbstregulation, Varietät, Rückkoppelung und Homöostase (= Aufrechterhaltung eines Gleichgewichtszustandes eines offenen dynamischen Systems durch einen internen regelnden Prozess.)
Ein hochtransparentes und flexibles Entscheidungssystem, das auf die Beteiligung aller Kräfte setzte.
Man könnte sagen, dass bereits eine Ahnung von dem vorhanden war, was der amerikanische IT-Experte Brian Robertson 2010 aufgreifen und weiterentwickeln sollte und dem er mit dem Begriff Holokratie eine wissenschaftliche Ausprägung verlieh. Holo = ganz, ganzheitlich, vollständig, Kratie = Herrschaft. Also die Herrschaft von allen (Gleichberechtigten). Transparenz, Partizipation, vielschichtige Beteiligung scheinen hier auf, Entscheidungsfindung auf ganzer Ebene. Hinter dem Begriff verbirgt sich ein Regelwerk, die „Holokratie-Verfassung“ (Holocracy Constitution). Ihre Philosophie setzt auf Selbstorganisation, kybernetische Anklänge, agile Methodik und kollektive Intelligenz. Sozialdynamische Qualitäten treten hinzu wie die Beteiligung aller, Ermutigung und Befähigung von vielen. Das Prinzip setzt die traditionelle Zuordnung nach Funktion und hierarchischem Grad außer Kraft und schafft dennoch kein Chaos. Es baut darauf, den Mitgliedern innerhalb von Arbeitsteams verschiedene Rollen zuzuweisen und sie in sogenannten Kreisen und Unterkreisen zu organisieren. Diese sind hierarchisch angeordnet und können jeweils auch Teil eines anderen Kreises werden.
Merke: Holokratie setzt die traditionelle Zuordnung nach Funktion und hierarchischem Grad außer Kraft und schafft dennoch kein Chaos.
Der entscheidende Vorteil: Holokratie kann mit Komplexität umgehen.
Hierarchische wie die am flächendeckenden Konsens orientierten Systeme buddeln in der Entscheidungsfindung Stolpersteine aus, die den Lauf einer Idee oder einer Entwicklung gewaltig hemmen können. Sie machen die Organisation schwerfällig und hüftlahm. In der Holokratie herrscht das Prinzip der „Integrativen Entscheidungsfindung“. Sie zieht eine auf Dynamik ausgerichtete Steuerung vor und erlaubt während des Entwicklungsprozesses kleinere oder größere Kurskorrekturen, rechtzeitig genug, bevor Fehler und Schwachstellen das Ganze blockieren und den Erfolg gefährden können.
Welche Vorteile bietet der Holokratie-Entscheidungsmodus gegenüber zentralistischen Top-Down-Entscheidungen?
Mehr Dynamik entsteht. Die Claims werden neu abgesteckt, der Weg, den die Entscheidung geht, vereinfacht und entzerrt sich. Das wirkt sich kreativitätssteigernd aus und nimmt jeden einzelnen Mitarbeiter mehr in die Verantwortung. Nutzt man den klassisch-hierarchischen Weg dagegen, vergrößert sich die Gefahr, dass man dem Wettbewerb das Feld überlassen und Konkurrenten die Chance gibt, die eigene Idee zu usurpieren und selbst zu nutzen. Brian Robertsons Ansatz bedient sich einer grundlegenden Überlegung: Das Wissen und die Ideen der Mitarbeiter sind so wertvoll, dass das Unternehmen es zwingend für Weiterentwicklung nutzen sollte. Im Grunde eine Binsenweisheit – doch in der bisherigen Businesswelt bisher nur schwer durchsetzbar, da die hierarchischen Ordnungen ihr Recht forderten. Das gegenläufige Extrem – flache bis gar nicht vorhandene Hierarchien – gebiert dagegen seine eigenen Schwachpunkte (Chaos). Ein schönes Beispiel gelungenen Gemeinschaftssinnes ist das Konzept der Hotelkette Upstalsboom, das eine neue Kultur schuf mit Selbstorganisation, Befähigung, Freiheit, gemeinsamer Entscheidung und Werteorientierung – zur hohen Zufriedenheit der 600 Mitarbeiter.
Give peace a chance – Give your people a chance! So hangelt sich das Prinzip der Holokratie behände zwischen „hierarchischem Modell“ und „strukturloser, flacher Hierarchie“, der eine gewisse „Effizienzhemmung“ immanent ist, auf ein gesundes Level an Förderung, Mitentscheidung und Flexibilität ein, das auf klare Absprachen nicht verzichtet. Doch Vorsicht: Nicht jeder Mitarbeiter ist dafür reif und bereit und könnte sich innerhalb des Systems als Hemmschuh erweisen. Unternehmen sollten das Prinzip Holokratie tunlichst nicht unreflektiert übernehmen und anwenden.
Kurzer Methodenüberblick – Ein Modell auf vier Säulen
Das Prinzip der Holokratie stützt sich auf ein ausführliches Regelwerk und bedient sich aus vier Prinzipien:
1. Die doppelte Verbindung („double linking“): Hierarchisch angeordnete Kreise teilen die Organisation nach den Erfordernissen der Arbeitsteilung auf. Intern arbeiten sie selbstorganisiert, stehen allerdings in ihrer Wirkung nach außen durch repräsentative Vertreter mit höheren („Rep-Link“) und unteren („Lead-Link“) Kreisen in Verbindung. So kann zwischen Mitarbeitern und Führung eine effiziente Kommunikation fließen, die Transparenz schafft und Wirkung zeigt.
2. Die Trennung von Steuerungstreffen und operativen Treffen: Jeder Kreis organisiert seine eigenen Steuerungstreffen, bei denen die Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnissen zugeordnet werden. Hier geht es explizit nicht um Ressourcenentscheidungen, um den Ideenfluss nicht zu hemmen. Zu diesem Zweck finden Strategie Talks und Steuerungsmeetings statt, die Ziele und Erreichbarkeit kontinuierlich überprüfen und die nächsten Handlungsschritte („Next Actions“) definieren.
3. Die Rollenverteilung: Auch wenn traditionelle, formelle Hierarchien qua Amt und Funktion in diesem Konzept keine oder lediglich eine sehr untergeordnete Rolle spielen, wird den einzelnen Mitarbeitern zugewiesen, welche Funktion sie in welchem Vorgang innehaben. Kompetenzgerangel und interne Missverständnisse schließen sich somit aus.
4. Die dynamische Steuerung: Die Kreise treffen jeder für sich ihre eigenen Steuerungsentscheidungen über den Weg der „integrativen Entscheidungsfindung“, d.h. über sachbezogene Entscheidungsprozesse. Kein einstimmiger Konsens wird angestrebt, sondern brauchbare Entscheidungen, die alle mittragen können. Jeder wird ermuntert, seine Meinung ungebremst zu äußern. Stellt sich heraus, dass die bisherigen Entscheidungen nicht funktionieren, wird nachgebessert. So hofft man einen höchstmöglichen Grad an Agilität, Flexibilität und Reaktionsklarheit herzustellen – wenn sich etwas nicht bewährt, kann jederzeit nachjustiert werden. Auf diese Weise soll das System so reaktionsschnell, anpassungsfähig und beweglich wie möglich gemacht werden.
Dass amerikanische Unternehmen wie die Amazon-Tochter Zappos nach diesem Prinzip arbeiten überrascht kaum. Staunenswerter ist sicherlich, dass hierzulande die Deutsche Bahn Ansätze startet, das Holokratie-Modell einzuüben. Die Umsetzung der Holokratie wird desto komplexer, je größer das Unternehmen ist. Konzerne tun sich also schwer mit ihr. Mitarbeitern muss ein hohes Maß an Engagement und Einsatzfreude abverlangt werden, soll das Prinzip sich nicht in das Gegenteil verkehren. „Placet experiri!“ Ein Allzweckrezept ist die Holokratie daher nicht, aber sie kann als eine der digitalen Zeit angepasste Anregung, die bisher dominierenden Hierarchiestrategien innerhalb der Unternehmen zu modifizieren, zu optimieren oder weiter zu entwickeln, verstanden werden.
Zur Erinnerung:
1. Zwischen hierarchischer Entscheidungsstruktur und strukturlosem, super-flachem Entscheidungsmodus bietet die Holokratie einen gangbaren Mittelweg; vor allem kleinere bis mittlere Unternehmen genießen hier eine gute Chance, vom ausschließlich hierarchiegeprägten und daher in der Regel schwerfälligeren zu einem agilen, flexiblen System zu mutieren.
2. Die 1:1 Übertragung des Holokratie-Ansatzes setzt reife und reflektierte Mitarbeiter mit einer überdurchschnittlich hohen Bereitschaft zu selbstständigem Arbeiten voraus. Nicht jeder will und kann mit soviel Freiheit und Entscheidungsspielraum umgehen. Das Gedankenmodell ist daher vielmehr als eine Anregung zu verstehen, hierarchische Strukturen zu überdenken, sie mit Elementen aus der Holokratie zu modifizieren, zu ergänzen oder weiter zu entwickeln.
3. Vorausgesetzt, das Holokratie-Mindset wird konsequent gelebt, bestehen gute Chancen, dass sich rasch positive Veränderungen im System bzw. in der Organisation sichtbar machen. Das System wird agiler im Sinne der digitalen Transformation, erlebt eine hohe Prozesstransparenz und motivierte Mitarbeiter, einen verbesserten Kommunikationsfluss und deutlich höhere Effizienz und Dynamik in den Arbeitsvorgängen. Weitere Informationen: Institut für Sustainable Leadership & Change
Das war ein Auszug aus Dr. Dennis Lotters Buch Digital Transformation Design.