Interview: Industrie 4.0 war gestern

14.06.2017.

Industrie 4.0 ist erst der Anfang. Wie die nächste Digitalisierungswelle aussehen wird, skizziert im Computerworld-Interview Rolf Schumann, seines Zeichens Global General Manager Platform and Innovation bei SAP.

Quelle: computerworld.ch

Roboter, Chat-Bots, Machine Learning und Automatisierung krempeln unsere Welt um. Aber das ist erst der Anfang. Industrie 4.0 war gestern, jetzt kommt Industrie 5.0. Auf Daten basierende Verhaltensmodelle stossen in eine ganz neue Dimension vor. Computerworld sprach mit Rolf Schumann, Global General Manager Platform and Innovation bei SAP, über optimierte Preise im Handel, die effizientesten Wartungsmodelle und bessere Schweizer Schokolade. Ausserdem verrät Schumann, wie Sie das optimale Geburtstagsgeschenk für ihre Frau finden und welche Elfmeter in Zukunft die Besten sein werden.

Computerworld: Herr Schumann, erzählen Sie uns ihr eindrücklichstes Digitalisierungserlebnis.

Rolf Schumann: Ich stand in München am Bahnhof, und da kommt ein Bub an, so acht bis zehn Jahre, und pincht mit dem Finger auf den Fahrplan, der dort hängt. Natürlich passiert nichts und er dreht sich um und sagt enttäuscht: Mama, der Fahrplan funktioniert nicht.

CW: Schöne Geschichte. Auf Events wie der Hannover Messe Industrie sieht man Machine Learning, den digitalen Zwilling, Robots und automatisierte Produktionsanlagen. Wie kann man das noch toppen? Wohin geht die Reise?

Schumann: Es ist Wahnsinn, was man da sieht. Wir verbinden die physische mit der digitalen Welt, es gibt keine Grenze mehr zwischen den beiden Welten. Wir haben die Maschinen, die Daten produzieren, und zusätzlich den gesamten Datenkontext – alles in Echtzeit. Ich bin optimistisch und glaube, dass der Mensch dadurch trotzdem nicht überflüssig wird. Wenn Sie sich heute eine Fertigungsstrasse in der Automobilindustrie anschauen, dann gibt es dort Einheiten, die vollkommen automatisch und autonom produzieren. Wollen Sie aber einen neuen Autotyp produzieren, dann braucht es Menschen, die den Roboter neu justieren.

Die Fortschritte sind enorm: Nehmen Sie den Mitsubishi-Robot und den Schunk-Greifer, Der Greifer besteht aus einer dem Menschen nachgebildeten Hand, die in den Fingern Sensoren eingebaut hat. Angenommen, Sie produzieren Schokolade. Dann kann der Schunk-Greifer mit seinen Sensoren ans Schokoladenstück greifen und anhand der Ströme die Qualität der Schoggi messen. Sie machen die Qualitätssicherung in Echtzeit während der Produktion am Werkstück. Eine eigene Qualitätssicherungsstufe fällt weg, Produktion/Manufaktur und Qualitätscheck fallen zusammen.

CW: Machen wir das nicht heute schon?

Schumann: Nur zum Teil. Der Greifer misst auch die Zeit, die Taktung und lernt durch KI, einzelne Produktionsschritte effizienter auszuführen. Er bemerkt ausserdem, wenn der Grip nachlässt und bestimmte Verschleissteile ausgetauscht werden müssen. Ein Roboter kann automatische Belastungstests durchführen und ein Produktionsstück so lange bearbeiten, bis es bricht, und er misst die Parameter kurz vor dem Bruch, die so auf einen baldigen Ausfall hindeuten. Ingenieure erstellen mithilfe dieser Daten Verhaltensprofile für einzelne Maschinenteile, die eine Vielzahl sich verändernder Kenngrössen enthalten und miteinander korrelieren. Damit verändern Sie alle Produktionsprozesse – aus Kostensicht, Effizienzsicht und in Sachen Life Cycle Management. Sie korrelieren Prozesse, Prozesskontexte, Verhalten (von Maschinen und Menschen) und Daten. Diese Dimension blitzt heute gerade erst auf.

CW: Ist die Künstliche Intelligenz wirklich schon so weit?

Schumann: Über künstliche Intelligenz sprechen wir schon seit 30 Jahren, das ist nichts Neues. Aber bislang war KI nicht finanzierbar und nicht machbar. Heute aber haben wir die superschnellen Rechner, wir haben die Algorithmen und wir haben die Daten. Jetzt gibt es keine Ausrede mehr, die Hände in den Schoss zu legen und nichts zu tun. Feasibility (Machbarkeit), Affordability (Finanzierbarkeit) und Viability (Wirtschaftlichkeit) heissen die Hürden, die jede neue Technologie überwinden muss. KI ist heute technisch machbar, wirtschaftlich finanzierbar und durch Unmengen von Daten validierbar. Denn ohne ausreichend Daten können Sie kein Deep Learning durchführen, um die KI-Systeme zu trainieren.

CW: Können Sie einige Beispiele für praktische Anwendungen nennen?

Schumann: Nehmen Sie als praktische Geschäftsanwendung Invoice Verification (Rechnungserfassung und -überprüfung). Früher waren Millionen von Mitarbeitern weltweit damit beschäftigt. Heute kommen wir auf massive Automatisierungsraten. Eine weitere grosse Kategorie von Anwendungen sind Chat Robots. In China laufen bereits die ersten Algorithmen für Versicherungen: für das Claim Management, also die Schadensabwicklung, und den Versicherungsabschluss. Die ganze Vorarbeit leisten die Robots, Sie müssen sich das wie eine Online-Pizzabestellung mit allen Zutaten vorstellen, und erst am Ende übernimmt der Mensch, indem er die Pizza per Auto ausliefert.

«Wir stossen in eine Dimension vor, die so komplex ist, dass kein Mensch sie mehr überblicken kann. Die KI kann das aber schon.»

Früher lief das menügesteuert: für Thunfisch drücken Sie die Taste eins, für Zwiebeln die Taste zwei. Chatgesteuert erfahren Sie aber viel mehr über das, was ihre Kunden wollen, was sie wissen oder noch nicht wissen. Das Interessante: Chat-Robots lernen bei jeder Bestellung und können nach 1000 Bestellungen einem Kunden sein individuelles Lieblingsmenü offerieren. Es ist unglaublich, was man mithilfe der Algorithmen alles herausfinden kann.

Jetzt nehmen Sie Verhaltensparameter hinzu: Angenommen, eine Kollegin in ihrer sozialen Jogging-Gruppe hat Geburtstag und Sie wollen ihr etwas schenken. Der Algorithmus weiss, wie viel Geld Sie typischerweise für ein Geschenk auszugeben bereit sind. Er weiss auch, welche Artikel sich ihre Kollegin bereits angesehen hat, was ihre Lieblingsfarbe ist und welche Sportartikel Sie sich bereits gekauft hat – und macht ihnen nach diesen Parametern einen Super-Geschenkvorschlag. Bingo!

CW: Ich sehe, Machine Learning kann das Verhältnis zu Freunden ganz massgeblich beeinflussen. Wer KI einsetzt, ist dabei eindeutig im Vorteil.

Schumann: Ja, aber auch im Handel gibt es viele Probleme, die man mit Verhaltensmodellen sehr gut lösen könnte. Zum Beispiel: Wann erhöhen Sie einen Preis, und wann reduzieren Sie ihn? Dafür müssen Sie ihren Warenbestand mit dem Kaufverhalten der Kunden, die sich gerade in ihrem Geschäft befinden, und dem Preisverhalten der Konkurrenz abgleichen. Lassen Sie mich ein einfaches, nicht ganz ernst gemeintes Beispiel erzählen, das den Mechanismus aber ziemlich gut erklärt. Nehmen wir an, ein leitender Angestellter, 40 Jahre alt, geschieden, möglicherweise in Begleitung seiner jüngeren Freundin, betritt nach 18.00 Uhr ein Schuhgeschäft. Dann wissen Sie, dass für diesen Kunden der Preis kaum eine Rolle spielen dürfte und es keine gute Idee wäre, jetzt eine Pricing-Down-Strategie zu fahren.

«Diejenigen Firmen, die die besten Ingenieure und die besten Verhaltensmodelle haben, werden am erfolgreichsten sein.»

Massgeblichen Einfluss auf den Preis hat ausserdem die Geschäftsstrategie des Händlers. Möchte er die Kundenbindung stärken, oder möchte er vor allem abkassieren, also möglichst viel in möglichst kurzer Zeit verkaufen? Will er den grösstmöglichen Profit mit den High-Volume-Kunden oder lieber alle Kunden möglichst gut bedienen, in Zürich, Genf, Bern oder München? Hier stossen Sie in eine Dimension vor, die so komplex ist, dass der Mensch sie nicht mehr überblicken kann. Die KI kann das aber schon und gibt ihnen am Samstag um 11.00 Uhr für ein Produkt in einer bestimmten Stadt für eine Kundengruppe, die gerade ihr Geschäft betreten hat, abgestimmt auf ihre Filiale und ihre Geschäftsstrategie eine ganz konkrete Preisempfehlung.

CW: Verhaltensmodellierte Algorithmen, die eine Vielzahl von Datenquellen anzapfen, krempeln die Verkaufswelt um. Da sieht die bisher bekannte, alte Empfehlungs-Engine von Amazon wie ein Spielzeug aus.

Schumann: Ähnlich können Sie zum Beispiel die Wartung von Maschinen optimieren. Nehmen wir an, Sie kennen das Verhalten einer Maschine und ein Verschleissteil droht auszufallen. Tauscht der Service-Techniker nur dieses eine Teil aus, oder gleich die ganze Einheit, weil dort ein zweites Teil mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten acht Wochen ebenfalls ausfällt. Oder lassen Sie den Wartungstechniker besser ein zweiten Mal just-in-time kommen, weil sein Büro um die Ecke liegt? Die Entscheidung liegt bei Ihnen und hängt von ihrem Servicemodell, ihren Garantieverpflichtungen und ihrer Risikobereitschaft ab. Sie wollen ihren vertraglichen Verpflichtungen unter minimalem Einsatz mit möglichst geringen Kosten nachkommen, und können mit den Daten plus ihrem Geschäftsmodell das Verhalten ihrer Wartungstechniker optimal steuern.

Meine Prognose lautet: Diejenigen Firmen, die die besten Ingenieure und die besten Verhaltensmodelle haben, werden in Zukunft ganz vorne mitspielen. Die Ingenieure haben das Domain-Wissen und können die Algorithmen bauen. Jedoch sieht für unterschiedliche Firmen der optimale Algorithmus unterschiedlich aus. Er hängt vom Verhaltensmodell (der Produkte und Mitarbeiter), von der Firmenstrategie und davon ab, wie ihre Firma mit ihren Kunden umgehen will.

CW: Machen das die Walmarts und die Migros dieser Welt nicht schon?

Schumann: Die grossen Ketten führen heute Warenkorbanalysen durch, um herauszufinden, wer wann welche Produkte kauft. Und sie beobachten den Wettbewerb. Ein junger Trend ist der Shop im Shop, etwa ein Blumen- oder Schokoladengeschäft. Schokolade und Blumen verkaufen sich immer. Entweder hatte der Kunde einen schlechten Tag und kauft die Blumen als Geschenk für seine Frau, um den Abend zu retten. Oder aber der Einkauf war erfolgreich und der Kunde nimmt die Blumen oder die Schokolade als Mitbringsel noch obendrauf. Mit Datenanalysen und Verhaltensmodellen können Sie beides steuern. Im Maschinenbau oder beim Transport läuft das ähnlich ab. Bei der italienischen Bahngesellschaft TrenItalia hat SAP die Wertschöpfung um 40 bis 50 Prozent verbessert. Daten zu sammeln ist erst der Anfang. Kombiniert mit Verhaltensmodellen und Prozesssteuerung stossen Sie in völlig neue Dimensionen vor.

«Wir können den Elfmeter beim Fussball mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent voraussagen.»

Auch der Fussball lässt sich mit Verhaltensmodellanalysen verbessern. Was meinen Sie: Kann man mithilfe von Datenanalysen vorhersagen, wo ein Elfmeterschütze den Ball platziert?

CW: Individuell, für den einzelnen Schützen am Elfmeterpunkt?

Schumann: Ganz genau. Wir können das bereits in bestimmten Situationen mit einer Wahrscheinlichkeit von über 95 Prozent vorhersagen. Es gibt bestimmte Merkmale beim Elfmeter: der Druck auf den Schützen (seine Mannschaft führt oder liegt in Rückstand), die Schussgeschwindigkeit, die Anlaufgeschwindigkeit, die Schusstechnik (zum Beispiel Innen- oder Aussenseite etc.) und – jetzt kommt das Beste – der sogenannte biomechanische Vorteil oder Nachteil beim Anlauf . Unter Druck, also wenn die Mannschaft in Rückstand liegt, laufen manche Spieler beispielsweise so unvorteilhaft an, dass sie nur noch in eine der beiden unteren Ecken schiessen können. Je nach Anlauf lässt sich sogar prognostizieren, in welche der beiden Ecke diese Spieler den Ball platziert.

Das ist komplett vorhersagbar. Diese Spieler würde ich unter Druck keinen Elfmeter mehr schiessen lassen. Auf der anderen Seite gibt es Fussball-Genies wie Lionel Messi von FC Barcelona, ein raffinierten Trickser, dem kommen Sie selbst mit Machine Learning nicht auf die Schlichen.

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